Schon als ich seinerzeit den Österreichischen Jakobsweg in Rankweil abschließe, ist für mich klar, dass ich dort auch wieder in den Camino durch die Schweiz einsteigen werde, um den begangenen Jakobsweg kontinuierlich bleiben zu lassen. Offiziell beginnt der Schweizer Jakobsweg ja erst in Einsiedeln und alle Wege davor sind nichts weiter als diverse Zubringer. Deswegen kommen sie auch als Schwabenweg, St. Galler Weg, Zürcher-Thurgauer Klosterweg und Appenzeller Weg daher. Auf dem letztgenannten will ich mich also bis nach St. Peterzell begeben, um dann dort ein Stück auf dem St. Galler Weg fortzusetzen. Aber der Reihe nach:
Am Samstag zu Beginn des Pfingstfestes 2018 geht es los. Alle bekannten Wettermodelle stellen mir für die gesamte Zeit in der Schweiz in etwa dieselbe Großwetterlage in Aussicht. Soll heißen: Vormittags trocken und Sonne, nachmittags Neigung zu Feuchtigkeit von oben. Nun – ich hätte auch weniger Glück haben können und muss daher damit zufrieden sein. Zunächst gilt es jedoch, die lange Anfahrt nach Vorarlberg in vollem Zuge zu genießen.

In Rankweil starte ich nicht unverzüglich westwärts, sondern erst einmal in die entgegengesetzte Richtung. Dort befindet sich nämlich der Liebfrauenberg mit der auf ihm thronenden Basilika. Stempel ist hier am Wochenende allerdings keiner zu ergattern, so dass es diesbezüglich erst in der Brederiser St. Anna-Kapelle zur Premiere kommt.
Bereits über das gesamte Rheintal hinweg ist das Appenzeller Bergland zu sehen. Ungefähr dort, wo ich den Aufstiegsweg zur Kapelle „Maria Bildstein“ vermute, wächst nun ein mächtiger Wolkenturm heran – es wird doch nicht schon am ersten Tag…
Knappe zehn Kilometer beträgt die Strecke bis zur Grenze am Rhein. Sein Heimatland nun auf dem Camino zu verlassen und in der Fremde weiterzuziehen ist ein eigenes Gefühl. Kurz bleibe ich stehen und lasse diesen Moment auf mich wirken. Abrupt werde ich von der Grenzkontrolle aus dem Gefühlsdusel herausgerissen, der Beamte will (m)ein Personaldokument sehen.

Der Gemeinde Oberriet ausweichend gelange ich in das Industriegebiet, welches den Weiler Hirschensprung zu verschlingen droht. Dort an der Straße habe ich Wahl zwischen einem nicht ganz ungefährlichen Straßenweg durch eine Felsenge oder einem Weideweg, um zum Weiler Rehag zu kommen. Der Weg über die Weiden ist für mich die bessere Alternative.
Und dann wird es steil. Das Rheintal lasse ich bereits vor dem Weiler hinter mir, aber den Aufstieg zu meinem ersten Quartier in Freienbach kann man getrost als knackig bezeichnen. Bernadette und Werner, die Gastgeber im „Haus zur Krone „ nehmen mich herzlich auf und wie es der Zufall will, hat Werner in seiner aktiven Zeit beim Flughafen in Zürich Kloten gearbeitet. Für ausreichend abendlichen Gesprächsstoff ist also gesorgt.

Am nächsten Morgen weckt mich kein Sonnenstrahl, dafür jede Menge Tatendrang. Es ist ja der erste richtige Wandertag, darum ist auch eine Wegstrecke von knapp dreißig Kilometer angedacht. Eine geschlossene hochnebelartige Wolkendecke will anscheinend verhindern, dass ich dabei überhitze.
Zu Beginn ist alles wie am Vortag gehabt. Steile Höhenmeter sind zu erklimmen, nur der Belag ändert sich. Bald kommt die erste Alm „Oberrieter Strüssler“ in Sicht, die von Jugendgruppen belagert ist. Darum steige ich am Kobelwiserbach entlang gleich weiter zur Wogalp empor, auf der dann wegmäßig ein kurzes Trial & Error- Spiel stattfindet. Auf richtigem Weg und eine Teerstraße entlang erreiche ich im immer dichter werdenden Nebel die Neuenalp, wo ich den ersten halben Kanton bereits abhaken kann. Halb deswegen, weil der Kanton St. Gallen die beiden Halbkantone Appenzell-Innerrhoden und Appenzell-Außerrhoden ringförmig umschließt. Kurz vor der Kapelle „Maria Bildstein“ stehe ich dann am höchsten Punkt des Tages, nur gegen Ende der Etappe kurz vor Urnäsch werde ich eine vergleichbare Höhe erreichen.
Pilgermassen sind hier noch keine unterwegs, genau genommen müßte ich mir einen Spiegel vorhalten, um einen Pilger zu sehen. Der Abstieg nach Eggerstanden gestaltet sich unspektakulär. Ein weites Hochtal, das bereits dem Toggenburg zugehörig scheint, öfnnet sich vor mir, durch den Hochnebel wirkt es aber irgendwie unheimlich und gespenstisch. Längere Zeit wandere ich nun geradeaus durch Wiesen bis zum Gehöft Halten. Kurz danach teilt sich der Weg wieder in zwei Varianten, ich nehme diejenige nach Steinegg, welche beim Restaurant Eggli vorbei- und die Pöppelstraße hinunterführt.

In Steinegg treffe ich auf den Fluss Sitter, der mich bis nach Appenzell hinein begleiten wird. Auch eine der überdachten Holzbrücken findet man hier. Ich werde auf meinem Weg durch die Schweiz noch einige von ihnen zu sehen bekommen. Appenzell gilt zu Recht als das Touristenmekka entlang des Appenzeller Weges. Unzählige Busladungen an Tagesgästen bewegen sich durch die Fußgängerzone des Ortszentrums, weshalb ich auch nicht länger als nötig hier verweile.

Der sogenannte „Barfußweg“ zwischen Gontenbad und Jakobsbad kann mich nicht dazu verführen, ohne Schuhwerk weiterzulaufen – die Tempobremse wäre zu drastisch. Das überlasse ich lieber den Kurgästen und schaffe mir so ein Zeitguthaben für eine längere Pause in Gonten unter einem Baum bei der Kirche. Im Gebäude nebenan wird man darauf aufmerksam und es kommt zu einer kurzen Unterhaltung über meine Ziele und das Pilgern.
Jakobsbad hat nicht nur das Kurhotel zu bieten, sondern auch die Kronberg(seil)bahn und das Kapuzinerkloster „Leiden Christi“. Kurz sehe ich in das Innere der Klosterkirche mit den beeindruckenden Wand- und Deckenmalereien. Gleich darauf steigt der Weg – von nun an „Besinnungsweg“ – zu einem Aussichtspunkt an. Die letzten Kilometer zu meinem Etappenziel Urnäsch stehen bevor.

Die können nochmals einiges, führt doch der Weg über steile Wiesen- und Weidehänge an einigen Gehöften vorbei, wo auch schon einmal die Übersicht über den genauen Wegverlauf abhanden kommen kann. Nichtsdestotrotz werden auch diese Probleme gemeistert und ich passiere ohne es mitzubekommen die Grenze zwischen Inner- und Außerrhoden. Unweit hinter der Kreuzung Hausmösli beginnt dann ein Wiesenweg, der immer steiler abwärts in das unter mir liegende Urnäsch führt. Ich übernachte direkt im Ortszentrum im „Gasthaus Taube“.

Die Regeneration meiner Beine über Nacht kommt genau richtig, denn schon vom Start weg muss ich anderntags steil den Gegenhang hinauf zum Hof „Oberer Buechen“, wo die Aussicht zum Alpsteingebirge mit dem markanten Säntis an diesem Morgen phänomenal ist. So sehr, dass mir das Weitergehen und Eintauchen in den Wald schwer fällt.

Beim Hof Hintereggli versperren mir einige Kühe und Stiere den Weiterweg, ich muss durchs hohe und noch nasse Gras ausweichen, was ein wenig Zeit kostet. Wenig später ist bei der Alp Fohlenweid der höchste Punkt des Tages erreicht und vor mir breitet sich das westliche Toggenburg mit den Orten Schönengrund und St. Peterzell aus. Im Norden ist schemenhaft sogar der Bodensee zu erkennnen. Oftmals bin ich nun auf Schotter- und angenehmen Wiesenwegen hinunter bis Schönengrund und danach noch bis zum Weiler Tüfi unterwegs.

Das Wetter ist noch ausgezeichnet und warm ist es auch geworden, was ich besonders auf dem Weg von Tüfi nach St. Peterzell bemerke, wo meist auf Asphalt marschiert wird. Ab hier sind die ersten Pilgerherbergen (Stichwort: „Schlafen im Stroh“) angeschrieben. Ich wandere über einen aussichtsreichen Hang bis zum Weiler Rüti und verschwinde erst danach in einer Mulde, in der St. Peterzell liegt und wo der Appenzeller Weg in den St. Galler Jakobsweg einmündet. Jedem Wanderer, der um die Mittagszeit hierher kommt, sei die Einkehr im netten Gasthof Schäfle empfohlen.

Der Appenzeller Weg ist hier zu Ende, ich wechsle daher auf den St. Galler Jakobsweg, der von Rohrschach am Bodensee über das namensgebende St. Gallen und Herisau hierher nach St. Peterzell führt. Bis Neuhaus werde ich diesen Weg begehen.
Weglänge: 52,6 km
Höhenmeter im Aufstieg: 1285m
Höhenmeter im Abstieg: 982m
(alle Angaben ohne Gewähr).
Beitragsbild: Alp Fohlenweid