Obwohl die Schweizer Bundesbahn (SBB) regelmäßig vor meinem Zimmer im Stanserhof vorbeirauscht, starte ich ausgeruht in den Tag. Vorläufig ist meine heutige Etappe bis nach Giswil am anderen Ende des Sarner Sees angedacht, was sich bis spätestens Flüeli-Ranft entscheiden wird. Wettermäßig erwarte ich jedenfalls keinerlei Störungen. Nach dem Frühstück und dem Begleichen der Rechnung muss ich zunächst einmal zum Dorfplatz zurück, wo ich nochmals die Kirche und das Winkelried-Denkmal, welches an einen nationalen Volkshelden und an die Schlacht bei Sempach erinnern soll, besichtige. Mehr Zeit bleibt mir für Stans und eventuell das Stanserhorn nicht, wenn ich es heute noch bis unterhalb von Kaiserstuhl schaffen will. Ich verlasse die Gemeinde also wieder steil bergan durch die Knirigasse, die wie deren Name schon verrät, zur 1698 erbauten Knirikapelle Maria zum Schnee (so die offizielle Bezeichnung) hin führt.
Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass der Weg von Stans bis nach Flüeli-Ranft nicht nur als Via Jacobi, sondern auch als Bruder-Klausen-Weg ausgeschildert ist. Damit ist auch klar, dass der Schweizer Nationalheilige und sein Wirken bis dorthin das bestimmende Thema sein wird.
Gleich hinter der Knirikapelle kreuze ich die zum Stanserhorn hinaufführende Zahnradbahn, von der ich einen der Wagen zufällig zu Gesicht bekomme. Am Wanghof vorbei gelange ich auf Pfade und Wiesenwege, die mich aussichtsreich zu den Höfen Hubel und Murmatt bringen. Beim Hubel habe ich diese schöne Aussicht auf den Alpnachersee.

Ganz im Gegenteil dazu weist nach dem Hof Murmatt ein Wiesenweg in ein verwunschen wirkendes Waldstück hinunter. Bald lichtet sich der Wald wieder und der Waldpfad geht in einen Forstweg über, dem ich einen Kilometer bis zum Rastplatz Rohrnerberg samt Schutzhütte (Gruebi) folge. Die Einladung nehme ich gerne an, vor allem, weil auch eine Toilette vorhanden ist. Von hier aus kann ich schon St. Jakob – die nächste Ortschaft – sehen.

Dorthin hineingewandert, mache ich im gleichnamigen Restaurant kurz Station und beschaffe mir den Stempel. Für das angeblich preisgünstige Mittagsmenü ist es mir mit zehn Uhr vormittag noch viel zu früh, Cordon Bleu-Liebhaber werden hier aber auf ihre Rechnung kommen, kann man doch zwischen zwanzig unterschiedlichen Zubereitungsarten wählen.
Kurz danach erreiche ich hinter dem Chappelwald den Mehlbach, welcher die Grenze zwischen den Kantonen Nidwalden und Obwalden markiert. Es geht jetzt öfters durch schattenspendende Waldstücke dahin, bis ich bei der Einmündung in eine Straße auf das sogenannte Maichäppeli stoße. Dort bieten mir einige Bänke die Gelegenheit, mich auszurasten und mich neu zu sortieren. Wie weit ist es noch bis zum Pilgerort Flüeli-Ranft? Müßte man nicht schön langsam den Sarner See sehen können?
Direkt vor mir sehe ich die östlichen Ausläufer von Wisserlen, die ich bergan durchquere, um dahinter einige Höfe zu passieren und zu einer Baustelle bei einem Felsdurchbruch zu kommen.
Dahinter befindet sich nach einer scharfen Linksbiegung das Pilger-Stibli. In dieser Einrichtung der Familie Windlin kann man sich gegen Bezahlung auf Vertrauensbasis selbst mit Getränken und Snacks bedienen und einen Pilgerstempel einholen. Selbstverständlich wird auch dringenderen Bedürfnissen in Form einer WC-Anlage Abhilfe verschafft.

Mir verschafft das Pilger-Stibli eine weitere willkommene Pause. Der Weg nach Flüeli-Ranft mag nicht besonders weit erscheinen, man sollte allerdings beachten, das der Jakobsweg jede Geländeform aus- und umgeht. Ich gehe zwischen den Hügeln und Gräben wie einem mäandernden Flusslauf folgend hin und her, mache Kilometer um Kilometer und komme der Wirkungsstätte von Bruder Klaus gefühlt dennoch nur im Schneckentempo näher, aber plötzlich ist der Nationalheilige wieder präsent:
Beim Weiler St. Antoni in der gleichnamigen Kapelle befindet sich an der Decke ein Abbild von Bruder Klaus beim Gebetsruf.

Von einem Höhenzug an einem Weidezaun entlang gehend habe ich bereits eine sehr gute Aussicht auf den Sarner See. Das bleibt auch den Rest des Tages so, bis auf zwei Ausnahmen: Die Klosteranlage Bethanien mit ihrem Gästehaus und der dicht bewachsenen Parkanlage ringsum versperrt mir jeglichen Ausblick. Kurze Zeit später muss ich dann in die Ranft-Schlucht absteigen. Davor geht es noch durch St. Niklausen hindurch und an der Kapelle St. Niklausen, einem der ältesten Bauten der Zentralschweiz, vorbei. Beim Restaurant Alpenblick findet sich gerade eine Hochzeitsgesellschaft ein und obwohl Mittagszeit ist, störe ich hier nicht, sondern begebe mich zur Kapelle, um diese von innen zu besichtigen. Ich öffne das Tor und sofort vernehme ich wohlklingenden Gesang zweier Frauen. Ich warte, bis sie fertig sind und trete erst dann weiter vor. Ob der Gesang im Zusammenhang mit der Hochzeitsfeier steht ergründet sich mir nicht.

Nun steige ich also in die Ranft-Schlucht hinab und überquere den Fluss Melchaa zum Ranftweg hin.
Dieser Weg kommt vom oberhalb gelegenen Wallfahrtsort Flüeli-Ranft herab und führt zahlreiche Pilger und Touristen zu den beiden Ranftkapellen, deren untere sich nun dreißig Meter links von mir befindet. Rechts von mir leicht oberhalb meines Standortes liegt die obere Ranftkapelle. Dort befindet sich auch die Eremitenwohnung – die sogenannte „Zelle“ – von Bruder Klaus.
Ich werfe einen kurzen Blick in das Innere, sehe aber angesichts des nicht abreißenden Touristenstromes keine Möglichkeit auch nur halbwegs allein zu sein oder auf ein vernünftiges Foto.

Das folgende Mittagessen in Flüeli-Ranft verdiene ich mir mit dem kurzen, aber steilen Aufstieg auf dem Ranftweg. Ich entdecke nahe der Bushaltestelle ein Lokal mit Gastgarten, wo man nicht abgezockt wird, sondern ein Menü zu vernünftigen Preisen geboten wird. Hier sehe ich den jungen Mann, den ich in Einsiedeln traf und der nach Morges wandert, wieder – diesmal in Begleitung seines Vaters.
Schon von St. Niklausen aus fallen einem das Jugendstilhotel Paxmontana und die Karl-Borromäus-Kapelle auf, im Ort selbst befindet sich auch das viel besuchte Geburtshaus des Eremiten. Auf all das verzichte ich jedoch und begebe mich nach dem Essen via Weg der Visionen nach Sachseln am Sarner See hinab. Sechs Plastiken von André Bucher sind kennzeichnend für diesen Weg und erinnern an die sechs Visionen, die Bruder Klaus bzw. dessen Frau gehabt haben. Er soll den Wanderer bzw. Pilger dazu veranlassen, über wichtige Grundfragen des Lebens nachzudenken.

Der Weg der Visionen endet bei der Kirche St. Theodul in Sachseln, in der sich bei meiner Ankunft eine Menge Burschenschafter herumtummeln. Seit 1679 ruhen in einem Altar der Kirche die sterblichen Überreste von Bruder Klaus.
Über den nahegelegenen Bahnhof erreiche ich das Seeufer, wo ein Promenadenweg nach Giswil am anderen Ende des Sarner Sees beginnt. Er ist angenehm zu gehen und erlaubt herrliche Blicke über den See zu den gegenüber liegenden Erhebungen. Trotz der schönen Ausblicke komme ich recht flott voran, so dass ich nach einiger Zeit einen einsamen Wanderer einhole, der sich bei deutlicher Annäherung als Pilger Martin entpuppt. Das ist Camino! Man begegnet einander immer wieder und hat immer neue Erlebnisse auszutauschen. Martin verbrachte die letzte Nacht in St. Jakob und es zieht ihn heute ebenfalls nach Giswil. Auf den letzten gemeinsamen Kilometern kommen wir beim alten Zollhaus, das jetzt ein Gasthof ist, vorbei. Rechts von uns liegt das sumpfige Naturschutzgebiet Hanenried.

Mein Quartier habe ich mir schon während meines Aufenthaltes im Restaurant in Flüeli-Ranft gesichert, dennoch muss ich bei meiner Ankunft in Giswil und dem Einkauf im Coop einige Zeit nach der Adresse suchen. Letztlich finde ich das B&B von Luisa Enz-Frezza, die schon 86 Lenze zählt und nicht mehr lange weitermachen wird können, aber doch. Martin will in der örtlichen Pfarre nach einem Schlafplatz suchen, endet allerdings dann doch als mein Zimmernachbar. Abends fegt dann noch ein heftiger vom Brünigpass kommender Gewittersturm über Giswil und den Sarner See, am nächsten Tag soll das Wetter aber wieder passen und ich darf mich auf eine beeindruckende Etappe zum Brünigpass (und noch weiter) freuen.
Am nächsten Morgen wollen Martin und ich gemeinsam starten. Weil ich früher als er abmarschbereit bin, vereinbaren wir, dass ich zur Kirche zwecks Pilgerstempel voraussgehe und dort auf ihn warte. Doch die Zeit vergeht und kein Martin findet sich bei der Kirche ein. Irgendwann entschließe ich mich dazu, langsam in den Wanderweg zum Lungerersee hinauf einzusteigen. Durch das flache Aaried zum nur aus wenigen Häusern bestehenden Weiler Buechholz schlendere ich mehr als ich marschiere. Nur wenige Meter bergauf reichen bereits, um einen freien Blick bis nach Giswil zurück zu haben. Der einzige, der fehlt, ist ein mir nachlaufender Martin. Wo der wohl geblieben ist?
Vor mir baut sich eine erste Geländestufe auf, welche ich nun ein wenig hurtiger überwinde und das eine oder andere Mal den Blick zurück auf Giswil und den Sarner See genießen kann, so wie hier zum Beispiel beim Hof Sommerweid.

Bald danach sind der Ort Kaiserstuhl an der Brünigstraße und der Lungerersee erreicht. Am Seeufer nütze ich eine der zahlreichen Sitzgelegenheiten für eine erste Pause. Man läuft Gefahr, diese nie zu beenden – so schön ist es hier am See mit dem Bergpanorama der Wetterhörner gegenüber und dem blauen Himmel über mir.

Weil ich Genf aber noch innerhalb meines Urlaubes erreichen will, muss ich mich doch schon bald nach Bürglen zur Kapelle des Hl. Antonius mit einer Grundsubstanz aus 1686 hinüber bequemen. Mein Weg führt nun an der Westseite des Lungerersees entlang und am Bauernhof Ennetmatt vorbei bis nach Obsee an der Südseite des Sees, das bereits zu Lungern gehört. Hier bestaune ich die St. Beatus-Kapelle und eine Reihe historischer Bauernhäuser. Aus der Distanz fällt mein Blick auch auf die kathedralenartige Herz-Jesu-Pfarrkirche von Lungern, die sich auf einem Hügel erhebt.
Dorthin komme ich nicht, denn sogleich biege ich bei einem Gewerbegebiet in den nahen Wald hinein. Dort beginnt der als Chäppelistieg bezeichnete Weg auf den Brünigpass auch sofort markant zu steigen, die Brünigstraße stets in Hörweite. Irgendwann ist diese Straße zu queren und auf der anderen Seite weiter steil bergan einem schmalen Pfad zu folgen, der mich schließlich zu einem Felsen bringt, wo ich mich in ein Pilgerbuch eintragen kann und das auch tue.

Dem Pfad weiter bergauf gehend komme ich an die Felsenge „Letzi“, wo ich rasten könnte. Hier an der stark befahrenen Brünigstraße wäre es mir jedoch zu laut, um zu verweilen. Darum gehe ich durch ein Weidegebiet weiter, bis ich wieder zur Bahnlinie stoße. Dieser brauche ich nun nur noch ein Stück zu folgen, um zum Bahnhof auf dem knapp über 1000 Meter hohen Brünigpass zu gelangen. An dieser Stelle endet auch der Jakobsweg durch die Innerschweiz. Auf der anderen Seite des Passes befindet man sich bereits im Oberland des Kantons Bern. Weil gerade Mittag ist setze ich mich für etwa eine Stunde in das direkt auf der Passhöhe befindliche Restaurant Waldegg. Ich habe von meinem Platz aus den Jakobsweg immer im Blick und könnte Martin vorbeipilgern sehen, so er denn kommt. Aber er kommt nicht…