Die Runde um den Block gegenüber der Herberge laufe ich bereits vor dem Frühstück. Zu unkomfortabel scheint in meiner Vorstellung, die steile Straße mit vollem Gepäck aufwärts bewältigen zu müssen und mich eine Straße weiter von eben diesem abwärts treiben zu lassen. Den Genfersee kann ich vom Zimmer aus nicht sehen, weil das Fenster auf den Höhenzug des Jura hin ausgerichtet ist, er wird aber heute nicht zu kurz kommen. Ich möchte den See möglichst schnell erreichen und werde diesen auch nicht so bald verlassen, zumindest bis Morges nicht, wo ich kurz vor Mittag eintreffen möchte. Weiters werde ich dann über Saint-Prex, Allaman und Perroy durch ein Weinanbaugebiet kommen und in weiterer Folge nur noch die Weinberge hinab nach Rolle hinein wandern, wo ich nach der Adresse meiner Quartiergeberin suchen muss.
Ich bin der Erste im Frühstücksraum und bekomme dort auch keinerlei Gesellschaft. Nicht einmal beim Auschecken rührt sich etwas, die Jugend hier scheint alles andere als tagaktiv zu sein. Vom Eingang der Herberge mache ich noch ein paar Schritte die steile Straße hinunter und wende mich dann sofort nach rechts zur Nationalstraße 1 hin. Die riesige Kreuzung, wo ich zur N1 stoße ist mit Baustellenabsperrungen und -planen reichlich verziert, weswegen ich vorausschauend an die Überquerung der Nationalstraße herangehen muss. Verpasse ich den letztmöglichen ampelgeregelten Übergang, kommt danach länger nichts und dabei soll ich nur 700m der N1 folgen.
Das Hoppala hebe ich mir für später, nämlich exakt für jene Stelle auf, wo eine der Hauptverkehrsadern Lausannes nach links weg verlassen wird. Ich sollte nun über den Vallée de la Jeunesse in einen gleichnamigen Park gelangen, habe jedoch anscheinend die Beschreibung nicht genau gelesen. So kommt es, dass ich den gleich nach dem Verlassen der N1 linksseitig entdeckten Park für den Parc de la Jeunesse halte. Ist aber nicht so, denn der gesuchte Park befindet sich wohl mehrere hundert Meter weiter westlich davon. Gewissheit, hier falsch zu liegen habe ich erst, als ich mich beinahe schon am Ufer des Genfersees befinde.
Also gibt es für mich eine etwas längere Uferwanderung. Ich verpasse damit die Pestkapelle (Chapelle de la Maladière) sowie die Ausgrabungen des alten römischen Lousonna.
Der parallel zum Seeufer verlaufende Spazierweg ist zu dieser Morgenstunde bereits ziemlich bevölkert, in erster Linie von Läufern und Hundehaltern, jedoch ganz und gar nicht von anderen Pilgern. Nach einiger Zeit gewahre ich Mauerreste aus der Römerzeit, von denen auch augenblicklich der Jakobsweg von rechts daherkommt und ich ab sofort wieder der Muschel bzw. der weißen Vier auf grünem Grund nachgehe. Der Weg schwenkt direkt zum Ufer hin und wird erdig, was meinen Füßen sehr gefällt.
Der 581 km² große Genfersee ist das größte Süßwasserreservoir Westeuropas und eigentlich nichts weiter als eine riesige Erweiterung der Rhône. Die Römer nannten ihn Lacus Lemanus. Im Mittelalter wurde er Lac de Lausanne oder Lac d’Ouchy genannt. Als dann der Einfluss Genfs immer größer wurde, nannte man ihn Lac de Génève. Heute ist man im französischen Sprachraum wieder zur ursprünglichen Bezeichnung zurückgekehrt und spricht daher vom Lac Léman. Im deutschen heißt er nach wie vor Genfersee und Engländer bezeichnen ihn ebenso als Lake Geneva.
Ein Yachthafen nach dem anderen säumt in diesem Abschnitt das Ufer, vielleicht handelt sich aber auch nur um einen einzigen riesigen Hafen. Beim Parc des Pierettes beginnt der schönste Teil des Uferweges, immer wieder geht es um Einzäunungen oder Mauern herum, einmal direkt am Wasser und ein anderes Mal hinter einem Gartenhäuschen. Das geht so bis zu einem weiteren Park, dem Parc du Pélican. Hier könnte man sich auch an einem Sandstrand sonnen, heute macht sich die Sonne aber noch rar. Gleich danach beginnt das Gemeindegebiet von Saint-Sulpice. Ebendort – beim Parc du Débarcadère – befindet sich die erste Schiffsanlegestation auf der Fahrt von Lausanne nach Genf. Ich begebe mich direkt dorthin, nicht etwa, um meine Fußreise nun per Schiff zu beenden, sondern, um eine dort befindliche Sitzgelegenheit für eine erste Pause zu nützen. Am Nachmittag müßte man von hier aus einen hervorragenden Blick auf Lausanne zurück und auf das gegenüber liegende Ufer des Genfersees mit den Savoyer Alpen haben.
Eine nahe dem Seeufer stehende Kirche gilt wegen ihres romanischen Querschiffes und des burgundischen Vierungsturms aus dem 12. Jahrhundert als sehenswert. Ich werfe nach der Pausenunterbrechung einen Blick hinein.
Der Weg hinter Saint-Sulpice ist jenem davor nicht unähnlich, das bedeutet: Einmal direkt am Ufer, ein anderes Mal nur in dessen Nähe, dann wieder an einem Yachthafen vorbei und gelegentlich eine Flussquerung. So geht es durch Préverenges hindurch bzw. eher nur an dessen Strandbad vorbei bis zum Yachthafen Port du Bief. Nach dem Fluss Bief wandere ich bereits im Gemeindegebiet von Morges, zunächst durch den Parc de Vertou und dann am Ufer entlang bis zur Pfarrkirche, wo ich den Jakobsweg vorübergehend verlasse und durch die Fußgängerzone der Hauptstraße (Grande Rue) gehe.
In die Kirche schaue ich selbstverständlich auch hinein, bleibe beim Versuch, an einen Stempel zu kommen allerdings erfolglos. Die wirklich sehenswerte Grand Rue endet auf Höhe des Schlosses und genau dort gegenüber finde ich ein nettes Lokal mit Sitzgelegenheit im Freien, wo ich die nächste Dreiviertelstunde verbringe. Danach mache ich der Tourismusinformation im spätgotischen Rathaus zwecks Stempelung (erfolgreich) meine Aufwartung und begebe mich anschließend wieder zur Kirche, um wieder in den Jakobsweg einzusteigen. Dieser bringt mich sogleich zum 1268 von Louis von Savoyen erbauten Schloss, welches heute das Waadtländische Militärmuseum, das Artilleriemuseum und das Schweizer Zinnfigurenmuseum beherbergt. Um zwölf Uhr mittags hält man dort aber Siesta und somit bleibe ich außen vor.
Einen Schatten spendenden Park würde ich jetzt ohnehin vorziehen. Einen solchen durchquere ich auch gleich darauf und stehe kurz darauf am Fluss La Morges. Auf dessen anderer Seite habe ich einen weiteren Yachthafen – den Port du Petit Bois – vor mir. Ich streife auf einem Wegabschnitt, der auch sentier de la truite (Forellenweg) genannt wird, durch ein schönes Waldgebiet. Zeitweise hat der Wald hier urwaldartigen Charakter. Dieser „Forellenweg“ führt kurzzeitig auch am Flüsschen Boiron entlang, bis die Eisenbahnlinie Genf – Bern bzw. Genf – Neuchâtel erreicht ist. Dort verabschiedet sich der „Forellenweg“, der Wanderkilometer des Jakobsweges unmittelbar darauf gehört eindeutig den Eisenbahnfreunden. So geht es auf Saint-Prex zu und kurz nach einer Unterführung unter den Bahngleisen blicke ich am Hafen Port de Taillecou erneut über den Genfersee. Nicht weit davon entfernt kann ich etwas später das alte Stadttor von Saint-Prex bestaunen. Geht man hindurch, öffnet sich einem die sehenswerte Altstadt, für diesen Abstecher müßte man allerdings etwas mehr Zeitbudget einplanen. Das Stadttor selbst ist mit seinem Glocken- und Uhrturm in dieser Form im Kanton Vaud einzigartig.
Am Stadttor vorbei werde ich abermals zum Seeufer hin geroutet, wo ich auf einem Steg um die Hausmauern herum zu einem recht kleinen Segelhafen hin laufe. Hinter dem Hafen verlasse ich den See dann für beinahe den Rest des Tages und wechsle ziemlich abrupt auf Asphalt und in die Wohngebiete von Saint-Prex. Zum Glück ist die Gemeinde mit dem benachbarten Buchillon noch nicht zusammengewachsen und ich habe zwischendurch auch Felder und Wiesen neben mir. Buchillon wartet mit einigen historischen Weinbauernhäusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert auf, sonst hat nur der an eine Kapelle angeschlossene Friedhof meine Aufmerksamkeit, denn gleich dahinter wendet sich der Weg einem Wald zu, auf dessen anderer Seite mich ein breiter Schotterweg zum Flüsschen L’Aubonne bringt.
Ich marschiere von da an – den Ort Allaman umgehend – für gut zwanzig Minuten am Flusslauf entlang durch einen weiteren (Au-)wald hindurch. So wie der Fluss mäandriert, so macht es ihm der Weg nach, weshalb er auch kein Ende zu nehmen scheint. Kurz bevor ich wieder an das Ufer des Genfersees gelangen würde, macht die Route eine scharfe Wendung weg davon und zur Zubringerstraße nach Allaman hin. An ein paar Pfirsichplantagen vorbei, finde ich beim Seebad des kleinen Weilers Verex eine Sitzbank vor. Das kommt mir entgegen, denn so muss ich nicht ins Restaurant La Pêcherie innerhalb des Bades hineingehen. Nach dem Durchmarsch von Morges bis hierher habe ich mir die Pause nun redlich verdient.
Noch sind aber ein paar Kilometer zu gehen und die führen mich an Weingärten vorbei, wobei ich stetig leicht an Höhe gewinne und so zwischen den Weinrieden zum See hinab blicken kann. Ich habe den bekannten Winzerort Perroy vor mir. Auch dort sind noch historische Gebäude aus dem 17. bis 19. Jahrhundert erhalten und zahlreiche Weinkeller säumen im Dorf den Wanderweg. Hinter dem Dorf geht es wieder durch Rebhänge zur Kantonsstraße hinab und auf dieser würde ich nur noch 35 Kilometer bis nach Genf gehen. Weil es der Jakobspilger aber gern umständlicher hat, legt er noch zwei Boxenstopps dazwischen ein.
Der erste davon liegt mir bereits zu Füßen, es ist die Kleinstadt Rolle, in der ich mich zunächst einmal auf dem Strandweg (Chemin de la Plage) in Richtung See begebe, dessen direkter Zugang jedoch von einem Campingplatz blockiert wird. Zum Zentrum hin brauche ich mich nur am imposanten Schloss der Stadt orientieren. Die Adresse meiner Vermieterin in der Grande Rue ist bald gefunden, nur öffnet vorerst niemand die Tür. Anscheinend bin ich zu früh da, darum nehme ich die Gelegenheit wahr, mir zuerst einmal ein kühles Helles im Gastgarten gegenüber zu genehmigen. Die Bedienung ist nicht die schnellste und so vergeht ein wenig die Zeit, aber auch beim zweiten Versuch eines Check-in lässt man mich auf der Straße stehen. Ich nütze die Zeit für einen Rundgang durch die Grand Rue und finde bei dieser Gelegenheit auch gleich ein Lokal, wo ich später zu verträglichen Preisen etwas essen kann. Ich gewinne den Eindruck, dass Rolle im wesentlichen nur aus dieser einen Straße mit ein paar Seitengassen zu bestehen scheint, was aber sicher täuscht.
Um 18 Uhr ist es dann soweit und die Tür zu meinem Zimmer für die Nacht öffnet sich. Um hier Wanderer etc. einquartieren zu können, dürfte der Dachboden ausgebaut worden sein, das wahre Highlight ist jedoch der Treppenaufgang. Was hier an Bildern und sonstigen Devotionalien aus teils längst vergangener Zeit in allen Farben herumhängt und -steht, lässt sich kaum beschreiben. Zum Abendessen in besagtem Lokal in der Grand Rue bin ich dann trotzdem noch gekommen, wenngleich der Aufenthalt in der gut besuchten Location für mich nicht besonders lange dauert. Ein Fußmarsch von 31 Kilometern hängt nach gut zwei Wochen Durchquerung der Schweiz eben nach.
Wie geht es weiter? Ich werde am nächsten Tag noch nicht in Genf ankommen, so viel steht fest. Das ist mir nicht unrecht, denn so werde ich in weiterer Folge an meinem letzten Tag in der Schweiz einige Stunden Zeit für die Stadt haben. Die Schwierigkeit liegt nun in der Quartierfindung für die nächste Nacht. Es lässt sich bereits jetzt sagen, dass das leistbare Angebot ziemlich überschaubar sein wird. Ich habe mir als Generalplan überlegt, einfach bis Nyon weiter zu gehen. Mit der Ankunft rechne ich für den späteren Vormittag. Dort werde ich die örtliche Tourismusinformation um Unterstützung bitten und sollten wir gemeinsam erfolglos sein, würde das eine Nächtigung in Nyon ergeben. Von Nyon aus wäre Genf an einem Tag gerade noch erreichbar, die Stadtbesichtigung müßte in diesem Szenario jedoch entfallen. Spannend wird es in jedem Fall.
Wieviele Pilger entscheiden sich für die alternativ mögliche Schiffsfahrt nach Genf? Wie hat euch der Uferweg entlang des Genfersees beeindruckt? Wer von euch hat in Perroy Wein verkostet? Lasst es mich wissen!