Nach nicht einmal drei Wochen Unterbrechung stehe ich wieder an der Murbrücke in Judenburg und entscheide mich, via „Vorstadtvariante“ die Seetaler Alpen in Angriff zu nehmen. Es ist eine Reise ins Blaue, denn am Vortag war es nicht möglich, rund um den Zirbitzkogel einen Schlafplatz zu reservieren. Die kurzfristigen und erfolglosen Anrufversuche beim Helmut-Erd-Schutzhaus auf dem Zirbitzkogel bzw. bei der zwei Wegstunden davor gelegenen Winterleitenhütte sind der kaum mehr erwarteten Öffnung eines Schönwetterfensters von zumindest zweieinhalb Tagen geschuldet. Der Alpengasthof Sabathy liegt vom Eisenwurzenweg eine Dreiviertelstunde abseits und hätte einen entsprechenden zusätzlichen Zeitbedarf für den Retourweg am nächsten Tag oder den direkten Aufstieg zum Zirbitzkogelhaus auf dem Weg Nr. 316 bedeutet. In letzterem Fall hätte ich nicht den kompletten 08er begangen. Immerhin wäre beim Sabathy laut Online-Abfrage ein Bett frei gewesen, doch ich wollte mich nicht frühzeitig für diesen Umweg entscheiden.
Nach dem nächtlichen Regen in den Alpen (Anm.: in Wien habe ich davon nicht viel bemerkt) begrüßt mich in Judenburg bereits strahlender Sonnenschein, der mich von nun an drei Tage lang begleiten soll. Nur am viertenTag, an dem ich zumindest in Völkermarkt eintreffen will, wird er mir wohl abhanden kommen.
Die „Vorstadtvariante“ führt mich durch die Sensenwerkstraße ebenfalls zur Mur hinunter.
Auf der anderen Seite des Flusses laufe ich noch ein Stück die ringförmig das Stadtzentrum umschließende Straße bis zu einer Kirche entlang. Über einen Abzweig aus der Stadt heraus erreiche ich den (ehemaligen) Gasthof Leitner, hinter dem ich in den Wald eintrete und mich der Gemeinde Oberweg zuwende.
Recht ruhig ist es hier, zeitweise fühle ich mich sogar wie in einem grünen Tunnel. Nur einmal wird ein Forstweg gekreuzt, wo ich auf zwei Spaziergänger treffe, sonst währt die relative Ruhe einige Zeit.
Kurz vor Oberweg greife ich zum Telefon und habe mehr Glück, denn gleich beim ersten Versuch nimmt man meinen Anruf bei der Winterleitenhütte entgegen und hat erfreulicherweise noch einige Betten für mich frei. Mir reicht eines davon, jedenfalls ist meine Reservierung rasch bestätigt. Mit der Sicherheit eines Übernachtungsplatzes wandert es sich gleich viel entspannter. Einziger Wermutstropfen ist jedoch, dass ich damit das Sonnenuntergangs- bzw. – aufgangsszenario auf dem Zirbitzkogel verpasse. Auch der Weiterweg zum Klippitztörl am nächsten Tag wird jetzt um einiges ambitionierter – in Zahlen gegossen um etwa zwei Wegstunden.
In Oberweg mündet der schöne Waldweg in eine Asphaltstraße, welche öfter auch von Armeefahrzeugen benutzt wird. Weiter oben nahe der Schmelz befindet sich nämlich ein Truppenübungsplatz, doch dazu später. Dieser Straße folge ich durch den „Talkessel“ bis zum Talschluss, wo der Wanderweg die beiden Kehren mittels direktem Anstieg abkürzt. Doch leider ist der Weg durch die Waldschneise nur erahnbar und einigermaßen zugewachsen. Ohne Buschmesser würde ich deutlich länger bis zum oberen Ende der Schneise benötigen als auf der Straße selbst.
Nach Vollendung der „Alternativroute“ verlasse ich die Straße aber bis auf weiteres und steige direkt zum ehemaligen Gasthof Reiterbauer auf. Vorbei an einem einsam am Weg stehenden Haus bewandere ich schon bald wieder einen angenehmen Waldpfad, der bei weitem nicht so von der Botanik vereinnahmt ist, wie der die Straße abkürzende Weg zuvor.
Irgendwann trete ich aus dem Wald und quere eine Weide, bevor ich wieder auf der schon beschriebenen Straße lande, wo ich nach ein paar Schritten bei einer Bushaltestelle den zuvor genannten ehemaligen Gasthof passiere.
Mein Blick schweift nun geradeaus nach vor bis zur nächsten Rechtskurve. Dort befindet sich das sogenannte „Weiße Kreuz“, ein etwas erhöht auf einer Böschung errichtetes Marterl. Zu meiner Freude darf ich hier wieder von der Straße abweichen und nicht nur das: Nach dem von Judenburg bis hierher kontinuierlichen Anstieg neigt sich der Weg nun erstmals wieder ein Stück bergab. Bei der Holzbrücke über den Feuerbach erfolgt die Ernüchterung, denn was ich bergab gehe, habe ich anschließend zusätzlich wieder aufzusteigen.
Noch bei der Brücke stehen mir darum die Schweißperlen auf der Stirn. Bei so viel Feuchtigkeit auf der Hautoberfläche brennen mir beim Anstieg durch den Brandwald höchstens die Fußsohlen. Ein Kahlschlag, der jetzt Brandwiese genannt wird, bietet mir nach längerer Zeit wieder einmal einen Tiefblick ins Murtal, das sich bereits ziemlich weit entfernt von meinem aktuellen Standort präsentiert. Auf der anderen Seite des Pfades blicke ich in jenes Tal, in welchem ich St. Wolfgang vermute.
Danach schlängelt sich der schmale Pfad durch ein weiteres Waldstück sanft bergan und ich frage mich schon, ob er denn überhaupt kein Ende nehmen will. Doch er will, nämlich nach einer ansteigenden und verwachsenen Wiese, wo ich wieder zur zum Truppenübungsplatz führenden Straße stoße, der ich nun unwillig, aber wegen des gesperrten Militärgeländes abseits davon alternativlos, bis zur Schmelzhütte entlang marschiere. Dazwischen befindet sich die Abzweigung nach St. Wolfgang und zur Judenburger Hütte.
Ich hingegen nähere mich an zahlreichen am Straßenrand geparkten Fahrzeugen vorbei kontinuierlich der Schmelzhütte, die heute überraschend für mich geöffnet hat. Ich hätte hier an einem Dienstag eher mit einem Ruhetag gerechnet. Erwähnenswert ist weiters, dass ich bei der Straßenkreuzung zuvor erstmals auch Sicht zum Zirbitzkogel mit dem Schutzhaus habe. Dessen Gipfel ist trotz bereits mehrerer Stunden auf dem Wanderweg noch ein gutes Stück und vor allem noch einige Höhenmeter entfernt. Sollte ich mit der Winterleitenhütte als Übernachtungsort am Ende doch die richtige Wahl getroffen haben?
In der Schmelzhütte verweile ich eine Stunde, dann bin ich ausreichend für den Abschlussteil der heutigen Etappe gestärkt und Stress habe ich auch keinen mehr. Schon bald nach dem Aufbruch lasse ich die Straße hinter mir, weil mich die Markierung bei einer weiteren (Jagd-)hütte in den Wald weist. Nach dem Durchmarsch durch eine von einer Telegrafenleitung durchzogenen Waldschneise finde ich mich auf einer Sommerrodelbahn wieder. Zu diesem Zeitpunkt bin ich wohl der einzige, der die Bahn – allerdings zweckentfremdet – benutzt, und muss gleichzeitig darauf acht geben, den Ausstieg nicht zu verpassen.
Ohne Abwege schnaufe ich nach einer Bachquerung einen doch etwas steileren Hang zu einer Bergrettungshütte hinauf. Von dort weg könnte ich über einen unmarkierten Fahrweg direkt bei der Winterleitenhütte anklopfen. Ich aber bleibe brav auf dem Eisenwurzenweg, der mich etwas weiter oben an einen in der Nachmittagssonne dahinrauschenden Zufluss zum Granitzenbach bringt.
Gleich nebenan liegt mit stiller und ruhiger Wasseroberfläche der Kleine Winterleitensee, an dem auch die Winterleitenhütte errichtet ist. Dass ich bereits um 16:00 Uhr dort eintreffe, ist kein Nachteil, denn schon eine Stunde später wird die Küche des Hauses kalt und um 18:00 Uhr endet auch der restliche Gastrobetrieb. Will man sich hier laben, sollte man sich auf dem Weg hinauf nicht allzu viel Zeit lassen. Sonst entspricht der Beherbergungsbetrieb durchaus meinen Erwartungen.
Nachdem der Laden für heute dicht gemacht ist, sehe ich mir den See noch einmal näher an, doch bald schon kriecht mir die zunehmende Kälte unter das Gewand. Es bleibt mir nur noch, mich auf morgen vorzubereiten und die Aussicht im letzten Tageslicht zu genießen. Leider versperren vor meinem Zimmerfenster ein paar Baumwipfel den freien Blick ins Tal. Ich muss mich diesbezüglich also noch bis zum morgigen Tag gedulden, wenn ich ein Stück weiter auf meinem Weg auf den Zirbitzkogel vorangekommen bin. Das Wetter soll morgen so wie die meiste Zeit heute schon tadellos sein – Weitwanderer, was willst du mehr! Auch wegen Quartiernot brauche ich mich nicht mehr zu sorgen, ich habe nämlich gleich nach dem Anruf bei der Winterleitenhütte auch noch mit dem Gasthof beim Klippitztörl telefoniert.