Die Aussicht aus meinem Zimmerfenster ist ziemlich mau. Das liegt nicht an witterungsbedingtem Unbill wie beispielsweise Nebel, denn die Luft im Freien ist klar und nicht weit über dem Gefrierpunkt temperiert. Viel mehr zeichnen die im Laufe der Jahre in die Höhe geschossenen Nadelbäume dafür verantwortlich, dass mein morgendlicher Blick ins Steirische nun im „grünen Bereich“ endet. Ich brauche mich darum nicht lange mit Melancholie oder Ähnlichem aufzuhalten, sondern packe nach einem herzhaften Frühstück meinen Rucksack, um möglichst früh an Höhe und damit wieder den landschaftlichen Überblick zu gewinnen.
Mein Tagesprogramm sieht in etwa so aus, dass ich zuerst Versäumtes vom Vortag nachholen muss und ungefähr zwei bis zweieinhalb Stunden auf den Zirbitzkogel (2396m) aufsteige. Gleich unterhalb des Gipfels befindet sich das Schutzhaus, wo eine Rast vorgesehen ist. Dann soll es über das „Judenburger Kreuz“ nach Kärnten hinein und zur St. Martiner Hütte weitergehen. Bis zum Naturfreundehaus beim Klippitztörl ist es dann hoffentlich nicht mehr allzu weit.
Um acht Uhr stehe ich im Freiluftkühlschrank am Kleinen Winterleitensee, wo ich – wenig überraschend – komplett andere Lichtverhältnisse vorfinde als bei meiner Ankunft. Der Gewinn an Höhenmetern ist zunächst eher bescheiden, aber dennoch reicht er bald aus, um den Bereich um die Winterleitenhütte und den Großen Winterleitensee digital verewigen zu können.
Meist in der Nähe von Bachläufen führt der Wanderweg durch einen Graben aufwärts, wo mich eine der auch für den Eisenwurzenweg typischen rot-weiß-roten Markierungen nach rechts zum Kreiskogel hin weist. Dass es nicht der korrekte Wegweiser ist, erkenne ich erst, als ich komplett aus dem Graben gestiegen bin. Von oben sehe ich den quer durch das Hochtal zum Schloßerkogel hin verlaufenden 08er. Der Pfad, auf dem ich mich bewege, bringt Wanderer vermutlich in den Lukas-Max-(Kletter-)Steig. Der zweite Versuch aus dem Graben zu kommen klappt, weswegen ich mit nur leichter Verzögerung an den schattigen Einstieg in den steilen Aufstieg zur Flanke des Scharfen Ecks gelange.
Mehrere Wanderer kommen jetzt über einen Alternativweg vom Parkplatz bei der Winterleitenhütte herauf. Sie geben mir von nun an ein besseres Gefühl, ob ich eher flott oder gemächlicher unterwegs bin. Der erste Teil des Anstieges findet in einem Sattel zwischen dem Oberen Schlaferkogel und dem Scharfen Eck sein Ende, was mir ein bisschen Zeit zum Verschnaufen bringt. Der Platz liegt bereits in der Sonne und wärmer ist mir jetzt nach dem Bergaufgehen auch. Von hier aus genieße ich die Fernsicht über das Hochtal und am Kreiskogel vorbei bis zu den Niederen Tauern.
Das Scharfe Eck wird von mir nicht vollständig erklommen, da der Weg mit der Nummer 308 in dessen östlicher Flanke zu jenem Kamm leitet, auf dem ich kurz darauf den Gipfel des Zirbitzkogels erreichen werde. Zuvor gilt es allerdings noch, während des Steigens in einigen steilen Kehren sowie anschließend von der Ostflanke des Scharfen Ecks aus einen Blick auf den Lindersee zu werfen. Nach der Umgehung des Scharfen Ecks habe ich dann freie Sicht nach Westen bis zur Hochalmspitze und ein prächtiges Bergpanorama vor mir.
So fantastisch dieses auch sein mag, ich muss mich davon trotzdem lösen und zum Zirbitzkogel weiter. Noch bevor ich im Zirbitzkogelhaus (Helmut-Erd Schutzhaus) einkehre, nehme ich den Gipfel mit und erreiche mit 2396m gleichzeitig auch den höchsten Punkt des gesamten Eisenwurzenweges. Was ist das doch für ein erhebender Augenblick, denn ich bin über das gesamte Jahr 2019 nicht höher hinaus gekommen. Sofort nach den obligaten Gipfelfotos steige ich die wenigen Höhenmeter zur Hütte ab und nehme für meine erste Rast an diesem Tag auf der sonnigen Terrasse Platz. Erwähnenswert ist auch, dass es sich beim Zirbitzkogelhaus um die höchstgelegene Schutzhütte der Steiermark handelt.
Eine kurze Pause wird das allerdings nicht, weil sich mein Aufenthalt durch das Versickern meiner Order im Nirvana zwangsweise verlängert. Kurz vor elf Uhr komme ich dann doch von der Hütte weg, kann also den Abstieg und somit den (noch) langen Marsch zum Klippitztörl beginnen. Schlappe sechs Stunden Nettogehzeit werden mir bis dorthin vorausgesagt. Der Höhenverlust geht anfangs recht zügig vonstatten, so dass ich bis zum Auslaufen des ersten Gefälles vor dem Fuchskogel bereits knapp zweihundert Höhenmeter einbüße. Blicke ich nach links hinunter, liegt am Fuße des Kars der Lavantsee, rechter Hand vom Kamm erstreckt sich der „Naturpark Zirbitzkogel-Grebenzen“.
Ab etwa hier beginnen auch die ausgedehnten Weideflächen der Seetaler Alpen, Anfang September sind jedoch nicht mehr viele Wiederkäuer dort anzutreffen. Mit ein paar Wanderern beginne ich das Spiel „Was ist wo?“ oder „Welche Erhebung ist zu sehen?“. Kurz vor dem Fuchskogel gehen wir wieder getrennte Wege, doch mein Versuch, zum Gipfelkreuz zu gelangen, scheitert kläglich. Das Vorhaben endet anscheinend auf der falschen Seite eines Weidezaunes in einer Sackgasse.
Die Zeit drängt und ich muss wieder zur (vermeintlichen) Wegteilung retour. Danach gehen binnen kürzester Zeit weitere hundert Höhenmeter verloren, wodurch ich das geografische Niveau des Wildsees erreiche. Die Häufung von Bergseen in den Seetaler Alpen verstärkt den Reiz der Almlandschaft in meinen Augen noch zusätzlich.
Nach einer weiteren Wegteilung, bei der sich die Tagesgäste des Zirbitzkogelhauses ins Tal verabschieden, verbleibe ich am Höhenrücken und arbeite meinen Weg entlang eines langen Weidezaunes ab. Erst als das Gelände deutlicher zu fallen beginnt, schwenkt die mittlerweile zum schmalen Pfad geschrumpfte Spur halbrechts vom Zaun weg und zum sogenannten „Judenburger Kreuz“ hinunter. Vom Wildsee bis hierher haben sich weitere dreihundertfünfzig Höhenmeter in Luft aufgelöst und außerdem bin ich beim Kreuz bereits am oberen Rand der Waldgrenze angekommen. In der Nähe ist die zur Streitwiesenalm gehörende und sich abseits meines Wanderweges befindende Stoanahütte zu erkennen.
Stets drehe ich mich auch nach dem Zirbitzkogel und dessen Schutzhaus um, beide werden mir noch den ganzen Tag und auch zu Beginn des nächsten Tages erhalten bleiben. Kaum dringe ich an der Westflanke der Zanitzenhöhe in den Wald ein, überschreite ich die letzte Landesgrenze auf meiner Wanderung zum südlichsten Punkt Österreichs. „Goodbye Styria, hello Carinthia!“ heißt es an dieser Stelle, welche durch ein Almgatter gekennzeichnet ist.
Während ich die Zanitzenhöhe umgehe, werde ich von einem flott dahinschreitenden Wanderer überholt. Ist das noch Wandern oder kann das schon als Laufen durchgehen? Jedenfalls sehe ich den Bergkameraden – von einer wesentlichen Ausnahme abgesehen – fast ausschließlich von hinten. Bald ist die St. Martiner Hütte und somit die nächste Labstation erreicht und wie es der Zufall will, ist kein freier Tisch mehr zu belegen, sondern ich muss mich irgendwo hinzusetzen. Hier kommt der eilige Wanderkollege wieder ins Spiel, weil sich nur am von ihm besetzten Tisch eine Sitzgelegenheit für mich bietet. Daher sitzen wir einander (erstmals) gegenüber und jausnen.
Er erzählt, dass er vom Klippitztörl aus in vier Stunden zum Zirbitzkogelhaus gelaufen ist und ich ihn nun auf dem Rückweg zum Auto treffe. Wir haben also den selben Weg vor uns und beschließen, gemeinsam aufzubrechen. Mittlerweile ist es halb drei geworden und das Wanderbuch meint, dass es noch vier weitere Stunden bis zum Ziel wären.
Über die Almen des Zöhrerkogels marschieren wir wieder bergan und umgehen den Kogel dann auf dessen Nordseite, so dass wir beim Zellkreuz wieder eine halbwegs gute Sicht zum majestätisch wirkenden Zirbitzkogel haben. Sodann wenden wir uns nach rechts zur bewirtschafteten Hütte auf der Feldalm hin. Normalerweise lasse ich ja keine Hütte aus, aus Zeitgründen reicht die Zeit hier jedoch ausschließlich zum Austreten.
Wegen des deutlich schwereren Marschgepäcks stapfe ich durchwegs hinter meinem „Tempomacher“ her, ab und zu wartet er dann auf mich. Ganz auf das Fotografieren mag ich nicht verzichten, doch das Bildmaterial von diesem Tag wird immer spärlicher, während sich die Sonne langsam zum Horizont hin zu senken beginnt. Über die Pressner Alpe und den Angerlkogel bewegen wir uns immer entlang der Waldgrenze, am Angerlkogel selbst setzen wir dann nach links fort und tauchen tiefer in den zeitweilig schütteren Wald hinunter bis in den Bereich der Grünhütte. An ihr kommen wir jedoch nicht direkt vorbei, sondern machen uns nach einer Einsattelung gleich wieder an den Aufstieg in Richtung Hohenwart.
Auch an der Hohenwarthütte kommen wir nicht direkt vorbei, wobei wir vielleicht einen unmarkierten Kammweg dorthin hätten nehmen können. Wir entscheiden uns für den markierten Weg und wagen kein Experiment – auch deswegen, weil der Sonnenstand mittlerweile zum Abschluss mahnt.
Bei einer Lichtung gilt es noch, einen scharfen und eher unauffälligen Abzweig nach links zum Klippitztörl nicht zu verpassen. Schließlich stoßen wir beinahe exakt auf der Passhöhe auf die Straße, auf der ich aber nur für das Foto verbleibe. Auf einem steilen Nebenpfad begeben wir uns im langsam verschwindenden Tageslicht zur nahe gelegenen Hütte, wo ich bereits erwartet werde und der laufende Wanderer bzw. wandernde Läufer sein Auto stehen hat. Energienachschub benötigen wir allerdings beide, weshalb wir uns in der Gaststube ein weiteres Mal gegenüber sitzen. Sonst habe ich heute nicht viel von seinem Antlitz gesehen. Recht deftig fällt das Mahl aus und zur Verdauung muss dann – schließlich befinden wir uns im Zirbenland – ein Zirbenschnapserl her.
Zur Herstellung von Zirbenschnaps und Zirbengeist kann auch auf Wikipedia oder direkt bei Michael Machatschek: Die Zirbe – Obstbaum unter den Nadelbäumen – Über die Verwendung der Zirbenzapfen, in: Der Alm- und Bergbauer, 11/99, S. 18–20 nachgelesen werden.
Nach dem Genuss des Hochprozentigen trennen sich unsere Wege und ich begebe mich auf mein Zimmer. Den restlichen Abend passiert nicht mehr viel, denn weit bin ich heute gegangen und hätte es diese Begegnung nicht gegeben, wäre wohl am Ende auch meine Stirnlampe zum Einsatz gekommen. Bei der dann rasch fortschreitenden Dämmerung hätte die letzte Wegteilung zur Passstraße hinunter ein Problem werden können – zu leicht ist sie zu übersehen.
Der Plan für den folgenden Tag ist, zunächst bis zur Wolfsberger Hütte weiter zu gehen und von dort aus in Diex anzurufen. Sollte dort kein Bett für mich frei sein, würde es ein eher kurzer Wandertag werden. Käme ich aber in Diex unter, könnte ich dem drohenden Schlechtwettereinbruch entspannt entgegen sehen. Es verbliebe für den Abschluss nur mehr der Abstieg ins Tal und ich könnte die Heimfahrt auch noch am selben Tag unterbringen. Mal sehen, wie es kommt!
Sehr schön! Diese Etappe (und die folgende) ist sicher das landschaftliche Highlight am gesamten Eisenwurzenweg!
Ein wenig i-Tüpferl-Reiterei kann ich zum Thema „höchste Schutzhütte der Steiermark“ beitragen: Seit dem Neubau der – nur namensmäßig mit den Seetaler Alpen verschwägerten – Seetalerhütte am Dachstein anno 2017, steht diese genau auf der steirisch-oberösterreichischen Grenze und überragt mit ihrer Seehöhe von 2740 Metern den Zirbitzkogel doch um ein Stückerl.
Liebe Grüße,
Gert
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So genau habe ich den Standort der neuen Seetalerhütte nicht vermessen. Meine Infos zum Haus am Zirbitzkogel dürften doch schon ein paar Jahre alt sein. Bezüglich des landschaftlichen Highlights gebe ich dir recht, auch wenn der „Nationalpark Gesäuse“ landschaftlich durchaus mithalten kann. Dafür ist der mehr vom Tourismus geprägt.
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